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Was für eine wunderbare Reise das war! Vor dem Libera-Konzert hatte ich bereits ausgiebig die Isle of Wight sowie Portsmouth und Southampton besucht, und mit einem Evensong in Portsmouth als Vorspeise war ich bestens auf den Hauptgang, das Libera-Konzert, vorbereitet, dem am Sonntag noch „Romeo and Juliet“ als Nachtisch im Globe Theatre in London folgte. Natur, Geschichte, Kultur, Musik, Theater, Heiteres und Ernstes, alles ganz rund.
Aber wir wollen uns darin nicht weiter verlieren, es läuft ja immer alles auf das Highlight zu: Libera.
Mir fehlt die Zeit für einen kompletten Bericht, deswegen beschränke ich mich auf das, was mir dieses Mal besonders erwähnenswert scheint.
Zunächst einmal hatten wir das unerhörte, wenn nicht ungehörte Glück, eine Soundcheck-Probe zu erleben, bei der Sam fast alle Lieder von A – Z durchlaufen ließ. Im Klartext: Wir haben für 1x zahlen zwei Konzerte bekommen, und es wurde überhaupt nicht langweilig.


Und was für ein Programm das war! Eine Überraschung nach der anderen, eine bunte Mischung als Neuem, Langzeit-Bestandteilen und Altem. Ein zeitlich so breitgefächertes Repertoire ist hochwillkommen, und ich bin sehr glücklich darüber, dass Sam alte Stücke zurückholt bzw. langjährige CD-Stücke erstmals auf die Bühne bringt. Ich hoffe, er geht diesen Weg weiter. Plötzlich scheint so vieles möglich, und vielleicht gibt es ja auch einmal Secret und Attendite usw. usf. live für mich und – erstmalig live – sogar Benedictus Deus. Das sängerische Potential halte ich definitiv für gesichert. Meine Fantasie geht grade durch die Decke.
Es gab Stabat Mater. Mysterium. In paradisum (Ben Robbins). Deep Peace. Einen Tick Jubilate. Nearer My God to Thee. Do Not Stand. From a Distance. San Damiano. Kann man mehr verlangen?! M. E. halten Libera-Konzerte immer für jeden etwas bereit, sie sind immer vielseitig. Aber hier habe ich es in besonderem Maße so empfunden, weil so viele ältere Stücke dabei waren.
Das Konzert begann mit einem durchaus nicht kurzen Abschnitt aus Jubilate, das von einer kleinen Gruppe begonnen wurde und mit dem diese vom Chorgestühl her mittig einzog. Nach und nach kamen von den Seiten die anderen Jungen dazu, und dann mündete Jubilate statt des erwarteten Refrains in den Libera-Ruf aus dem Lied Libera. Ob man solche gekürzten Sachen nun mag oder nicht (Teaser können so gemein sein!

Libera hat das Fragment im Programmheft natürlich verschwiegen, aber auch textlich gesehen hätte die Vorbereitung auf ihren signature song Libera nicht passender sein können:
Angels holy high and lowly
Tell the story of the glory
Heaven soaring stars adoring
Tell the story of the glory
Hymn to Beauty ist ein sehr alter Song, das bisher nie auf CD erschienen ist. Vielleicht erwischt es die nächste? Dass es jetzt auftauchte, hat uns alle sehr erstaunt, und wenn es vielleicht auch kein Favorit für mich werden wird, so hat es mir trotzdem gefallen. Mit seinen vielschichtigen und doch transparenten Harmonien und den eher als eine Melodie im Vordergrund stehenden Klangfarben hat es etwas Impressionistisches. Stilistisch fühlte ich mich ein wenig an Luminosa erinnert und auch ein ganz kleines bisschen an Once.
Zwischenzeitlich habe ich vernommen, dass manche das Lied nicht mochten. Vielleicht braucht es nur etwas Zeit, um sich hineinzuhören? Ich finde es wegen des besagten Fokus auf die Harmonien durchaus liberaesk und möchte hiermit eine Lanze für das Stück brechen.
Liberas Gesang fühlte sich an wie eine Feder, die sich vom Wind treiben lässt, schwerelos hin- und her, auf- und ab schwebt, und die zarten Harmonien bewirkten Licht vor meinem inneren Auge, das an allen Ecken und Enden durch Bäume funkelt Ich fand die Musik schön.
Seabird ist bestens geeignet, um sich zurückzulehnen und das Leben locker-leicht zu nehmen. Musikalisch passiert gar nicht so viel, aber es klingt immer und ist auch ein Gute-Laune-Stück, weil es so schön schwingt. Und etwas Leichtes war gut, bevor ein viel schwerwiegenderes Lied folgte …
Unendlich dankbar bin ich, dass Sam Stabat Mater ans Bühnentageslicht geholt hat!


Thomas Mushrafi sang ein traumhaftes Solo! In diesem Stück ist der riesige Tonraum von einer Duodezime zu bewältigen (das heißt konkret von d‘ bis a‘‘). Was er bravourös meisterte, mit einem durchgehend gleichmäßigen Timbre. Das war erstklassig! In der Probe war er noch etwas besser als später im Konzert, und auch deswegen bin ich extra-dankbar für offene Proben. Manchmal bekommt man dort besondere Perlen. Thomas hat eine kristallklare, runde, vor allem aber ausgesprochen geschmeidige Stimme. Und genau das braucht Stabat Mater mit seinen großen Intervallsprüngen. Thomas sang dieses anspruchsvolle Solo sehr konzentriert und gleichzeitig bewundernswert souverän. Manchmal hat man als Zuhörer ja etwas Sorge vor den Spitzentönen. Hier war das nicht nötig. Alles ein Guss, toll!
Auch der Chor erfüllte seine Aufgabe in diesem emotionalen, melancholischen Stück vollkommen, ebenso einfühlsam vom Orchester verstärkt. Man möchte die ganze Zeit mit Maria zusammen seufzen. Hinreißende Aufführung.
Das ruhige Deep Peace auf das schmerzerfüllte Stabat Mater folgen zu lassen war gut gewählt: So wurde man aus der vorherigen Stimmung nicht zu krass herausgerissen, und trotzdem kam etwas Tröstliches, Sonniges auf.
Do Not Stand at My Grave und If sind zwei hauptsächlich solistisch getragene Stücke, und für beide war Jerome Collins eingesetzt – tja, Idealbesetzung, nicht wahr. Sein Duettpartner bei Do Not Stand war Ben Hill und das ganze Stück lang hatte ich Gänsehaut, sogar jetzt noch, wenn ich an die Aufführung zurückdenke. Do Not Stand ist so ein schönes Lied! Und If geht ja immer total unter die Haut. Als ich im Dezember-Konzert oben auf der Galerie saß und If hörte, auf das ich überhaupt nicht gefasst gewesen war, konnte ich nicht glauben, was Jerome da unten grade leistete.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Jeromes Gesang sich am besten beschreiben lässt. Wahrscheinlich werde ich es nie ganz treffen, also hier nur ein Versuch: Er ist ja noch sehr jung, singt aber sehr andächtig und wirkt dabei, als ob er ganz in sich ruht. Einerseits behandelt er die Lieder mit dem Ernst, der ihren Texten zukommt. Andererseits strahlt etwas Heiteres aus ihm, wie eine Art Urvertrauen, und ich habe mich in beiden Liedern bei dem Gedanken ertappt, dass er überzeugt davon sein muss, dass am Ende alles gut wird. Er ist ganz bei dem, was er singt, vermittelt ungemein authentisch seine Liebe zur Musik und ebenso sein Verständnis des Textes. Das, was er da vorträgt, nehme ich ihm ohne Weiteres ab. Dabei fließt seine Stimme die ganze Zeit über ganz natürlich. Eine erstaunliche Begabung und tatsächlich fähig, jemanden zur Ruhe kommen zu lassen.
Sein besonderes Kennzeichen: Jedesmal, wenn sein Gesang an Intensität zu gewinnen beginnt, hält er den Klang aber gleichzeitig auf subtile Art auch zurück, was eine höchst interessante Mischung aus Zartheit und unbestreitbarer innerer Stärke ergibt und etwas in mir zum Klingen brachte.
Ich weiß nicht, wann zuletzt oder ob überhaupt jemals ein Solist mich dermaßen in seinen Bann gezogen hat. Wirklich, man sollte ihn einmal gehört und ihm einmal beim Singen zugesehen haben!
Music Was Born und Nearer My God to Thee gefallen mir live weit besser als deren Aufnahmen. Auf „Dream“ bekomme ich bei Music Was Born Chor und Musik irgendwie nicht übereinander. In den Konzerten dagegen ist das Erlebnis viel vollständiger, und so wurde das Konzept des Stücks auf einmal verständlich. Nearer My God to Thee reißt mich auch nicht vom Hocker, zu viel Dur, aber am Tag nach einer Tour „Zu den Geheimnissen der Titanic“ in Southampton ist es natürlich ein genialer Zufall, ausgerechnet das Lied zu bekommen.

Das Andocken von Jubilate an Libera hatte mich an Mysterium erinnert, das auch mal gekürzt als Intro für ein anderes Stück diente. Letztlich war das jedoch damals eine Enttäuschung, denn dieses geheimnisvolle, eben mysteriöse Lied braucht seine volle Länge, damit man sich in der angenehm unheimlichen Stimmung richtig verlieren, eine Geschichte erleben kann. Das hat Libera jetzt geheilt: Mysterium für mich erstmalig komplett. Ein außerordentlich eindrucksvolles Stück, das bitte lange im Konzert bleiben soll. Jemand sagte mir danach, dass der Effekt sich noch maßgeblich verstärkt, wenn die Kirchenorgel mit eingesetzt wird. Es wäre natürlich super, das auch einmal zu hören, aber ich bin so bereits sehr zufrieden.
San Damiano war witzig: Beim Soundcheck der Instrumente wurden ganz kurz die Bongos angespielt, ich scherzte gegenüber meinem Nachbarn „ah ja, wir bekommen San Damiano“, rechnete aber nicht wirklich damit. So habe ich mich getäuscht, zum Glück. Es ist ein schlichtes, volksliedhaftes, fröhliches Stück, von Libera mit strömendem, strahlendem Gesang vergoldet, ein Hörgenuss.
Auch wenn viele Lieder und noch mehr einzelne Aspekte, grade auch Solisten zu Unrecht viel zu kurz kamen, muss ich hiermit die Liedbesprechung beenden. Bis auf The Lark’s Last Song, mit dessen Musik ich mich nicht anfreunden kann (dear Josh, konntest du für deinen so zu Herzen gehenden Text nicht ein anderes Stück wählen als ausgerechnet Liszts Liebestraum?), war es wie erwähnt ein fabelhaftes, glänzend ausgewogenes Programm!
Ich entschuldige mich bei denen, die diesmal unerwähnt geblieben sind. Es ist schon ungerecht, denn zu jedem von ihnen gäbe es etwas hervorzuheben, das steht fest. Die Solistenriege war brillant. Im Übrigen verdienen sie ein Extralob, was die lang auszuhaltenden Töne betrifft. Diese Fähigkeit ist nur zu bewundern, denn es macht beim Gesamtgenuss eines Lieder so viel aus. Auch gelingt Sam (Sam und Liam?) die Auswahl der jeweiligen Solisten für die Lieder exzellent, das stellen sie immer wieder unter Beweis.
Jede Ansprache war ein Highlight für sich, ob es z. B. einfache Liedankündigungen waren, die Vorstellung der Brüderpaare, geschichtliche und musikalische Auskünfte, Familienherkunft in verschiedenen Sprache oder Präsentation des geheimen Stars eines jeden Libera-Konzerts: Moose. Derzeit kümmert Edward Sargeant sich um ihn, und die Ansprache im Dialog mit Caleb Slater war gespickt mit Wortspielen wie „mooseunderstand“, „amoosing“ oder „moosic“. Es war sehr witzig, und Edward – auch dies eine Idealbesetzung - hatte sichtlich selbst großen Spaß an seiner Rolle, zumal er später noch einmal aus seiner Position im Chor heraus einen amoosing Zwischenruf in eine Rede hinein zu tätigen hatte. Super Idee! Und wusstet ihr, was für ein prachtvolles Versteck ein Robenärmel für einen Moose ist? Und habt ihr eine Ahnung, warum die ganzen Elchwörter von der Rechtschreibhilfe rot angeprangert werden? Ts ….
Dann habe ich Folgendes zu berichten: Moose musste am Schluss noch einem ungewissen Schicksal ins Auge sehen, das er mit Fassung trug, denn er kennt das schon von Moskau 2018: Man vergaß, ihn mitzunehmen, und so saß er einsam und verlassen auf der Bühne. Ein Libera-Fan erbarmte sich schließlich, hob ihn auf und übergab ihn sorgsam an Mathias Montoro. Es muss ein sehr emotionaler, feierlicher Moment für diesen Fan gewesen sein.

Zu vermelden sind sieben neue Miniboys, von denen zwei sogar Brüder sind. Das ist vermutlich eine Premiere? Der ältere der beiden, Wilfred Gummer, war auf jeden Fall das ganze Konzert über sehr bei der Sache und hatte auch eine Rede zu halten, die er tadellos ablieferte.
Die Miniboys waren meist in 4 und 3 aufgeteilt und standen ganz links bzw. rechts vorne. Irgendwann gab es ein Missverständnis zwischen der Vierergruppe und Liam, und sie verließen die Bühne, um dann abwesend zu sein, als sie in der nächsten Ansprache begrüßt wurden. Das hat mir leidgetan. Aber so etwas passiert.
Einer von ihnen strahlte vor Stolz, als es nach dem ersten Lied seinen ersten Applaus als Libera-Mitglied gab. Danach allerdings nicht mehr, kein einziges Mal. So schnell schleicht sich Routine ein.

Libera schien mir in diesem Konzert besonders zufrieden. Das war richtig schön! Auch ohne übermäßig viel zu lächeln wirkten sie fröhlich und durchgehend engagiert. Ich denke aber nicht, dass es am Gedanken an den kurzen Heimweg per Tube lag, der in einer der Reden ausdrücklich positiv erwähnt wurde.

Fazit: Mir gefiel das Programm, mir gefielen Chor, Solisten und Orchester, mir gefielen die Ansprachen, und mir gefiel mein eigenes Vergnügen, das alles zu sehen und zu hören.

